Gurgaon – Wirtschaftswunder mit schwacher öffentlicher Infrastruktur

Wirtschaft

Vipul SwaroopGeschrieben von:

Ansichten: 3612

Indien wird nicht mehr als Entwicklungsland eingestuft, sondern zählt seit 2016 zu den Ländern mit niedrigem mittleren Einkommen. Maßgeblich geht diese Entwicklung zurück auf Städte wie Gurgaon (Gurugram), Bengaluru oder Mumbai. Gurgaon spiegelt hierbei treffend die indische Wachstumsstory wider. Über die außergewöhnlich dynamische Entwicklung einer Stadt als Teil des indischen Wirtschaftswunders.

Gurgaon – Die Wachstumstory

Gurgaon ist eine Stadt im indischen Bundesstaat Haryana und liegt etwa 30 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Neu-Delhi. Vor zwei Jahrzehnten, zu Beginn der wirtschaftlichen Öffnung Indiens, war Gurgaon nur landwirtschaftliche Nutzfläche, wo die Bauern das Sagen hatten. Plötzlich kam es quasi über Nacht zu einer Wende. Auftritt der Firma DLF: ein zufälliges Treffen am 12ten Mai 1981 zwischen Herrn Kushal Pal Singh (Vorstand und CEO, DLF Universal) und Herrn Rajiv Ghandi (Ministerpräsident Indiens, 1984-1989) hat zur Geburt des heutigen modernen Gurgaon geführt.

Auftritt Jack Welch, CEO von GE (seine Biografie: „Was zählt: Die Autobiographie des besten Managers der Welt“). Nach mehreren Anläufen und Treffen überzeugte Herr Singh Herrn Welch im Jahr 1997, die erste Einrichtung von GE in Indien zu gründen, und zwar in Gurgaon. Mit dieser Einrichtung wurde GE die erste amerikanische Firma, die IT Offshoring nach Indien umsetzte. Damit war der Grundstein für die Erfolgsgeschichte von Gurgaon gelegt, nach GE kamen weitere Firmen in die Stadt.

Die Firma Genpact verdeutlicht die immense Wachstumsdynamik. Genpact startete von Null als Call-Center für GE Ende der 1990er Jahre, heute ist es ein eigenständiges Unternehmen und beschäftigt 60.000 Mitarbeiter (!) weltweit. In Gurgaon sind heute viele marktführende Firmen wie Coca-Cola, Pepsi, IBM, American Express, Agilent, Microsoft oder Bank of America mit mindestens einer Niederlassung/ Filiale vertreten. Es sind alle Branchen vertreten: Von der Telekom-Industrie bis Automobilhersteller bis Bankgesellschaft.

Ich persönlich bin überdies sehr stolz darauf, dass Gurgaon eine wichtige Rolle in der Mars Rover Mission der NASA gespielt hat, nämlich: Die NASA hat ein Tool des Mars Rover verwendet, das von Siemens Industry Software in Gurgaon entwickelt wurde. Überhaupt: Für alle Produkte von Siemens gilt: India Inside. In allen Produkten gibt es eine Komponenten aus Indien (vom Auto bis zum Raumfahrzeug), da in Gurgaon viele wichtige Entscheidungen zu Produktdesign stattfinden.

Darüber illustrieren 26 Einkaufszentren, sieben Golfplätze und die Filialen von Luxusgeschäften wie Chanel und Louis Vuitton die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt. In den Showrooms glitzern die neuesten Modelle von Mercedes oder BMW.

Die Wohntürme schießen wie Pilze aus dem Boden. Mit seinen glänzenden Gebäuden und der boomenden Wirtschaft wird Gurgaon oft als Symbol einer aufsteigenden “neuen” Indischen Stadt dargestellt. Einer der Gründe für den Erfolg von Gurgaon ist natürlich die Nähe zur Hauptstadt Neu Delhi, womit die Unternehmen Zugang zu politischen Entscheidungsträgern haben.

Blick hinter die Kulissen

Mit dem schnellen Aufstieg kamen auch zahlreiche Probleme. Einerseits scheint die Stadt alles zu haben, anderseits gibt es eine lange Mängelliste: Ein funktionierendes Entwässerungssystem, die zuverlässige Versorgung mit Strom und Wasser, öffentliche Bürgersteige, ausreichende Parkplätze und ein ordentliches stadtweites System öffentlicher Verkehrsmittel. Vor allem Strom ein großes Problem in die Stadt, im Sommer gibt es täglich 8 bis 10 Mal Stromausfälle. Die Firmen reagieren mit privaten Maßnahmen gegen das öffentliche Versagen: Sie haben beispielsweise riesige Generatoren gegen den Strommangel (je mit der Kapazität für die Versorgung einer Kleinstadt), oder bieten Mitarbeitern Taxiservices wegen fehlender öffentlicher Verkehrsmittel an.

Mit einem Blick aus den komfortablen Weltklasse-Büros oder Luxushäusern kann man die verschiedenen Probleme bereits gut erkennen. Zum Beispiel die hohe Verkehrsdichte, weil es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Vor kurzem, am 29ten Juli 2016, waren Tausende Verkehrsteilnehmer stundenlang in einem massiven Stau wegen Staunässe stecken geblieben (mehr Info). Ursache waren die üblichen Verdächtige: Schlechte Infrastruktur, fehlendes Entwässerungssystem. Wussten Sie außerdem, dass Gurgaons Bevölkerung in den letzten 25 Jahren von ein paar Tausend auf 2,5 Millionen explodiert ist.

Kürzlich hat die Stadt einen Warnschuss bekommen: Sie wurden wegen der oben genannte Probleme von der Regierung nicht als eine der Smart Cities benannt, was PR-Aufmerksamkeit und Infrastrukturgelder der Zentralregierung bedeutet hätte. Und trotzdem: Trotz der Mängelliste investieren Firmen immer noch in Gurgaon, weil es nicht viele Städte in Indien gibt, die so viel Talent in einem so breiten Spektrum von Dienstleistungen an einem Ort anbieten kann. Nach dem bekannten Intellektuellen und Autor Gurcharan Das (ehemaliger Manager von Pepsi in Indien), ist das bisherige Wirtschaftswunder von Indien eine Geschichte von privatem Erfolg bei öffentlichem Versagen. Gurcharan Das hat das in einem seiner Bestseller wie folgt auf den Punkt gebracht: „India grows at night“, heißt: Indien wächst in der Nacht, während die Regierung schläft (mehr Info). Und Gurgaon ist dafür ein klassisches Beispiel. Nun, die privaten Firmen gehen die Probleme selbst an. Aber gleichzeitig steht die Regierung auch nicht im Weg der Firmen – und wenigstens das finde ich auf jeden Fall gut.

Was steht für die Zukunft an?

Die Stadtverwaltung hat trotz allem einen Masterplan für die Zukunft. Sie wollen zuerst ein Bussystem wie jenes in New York oder New Jersey einrichten. Dafür braucht die Stadt mindestens 300 Busse, bis 2031 sollen diese im Einsatz ein. Darüber hinaus möchte die Regierung eine neue Metro Linie bauen. Bis dahin setzt die Stadtverwaltung auf eine Problemlösung im Zusammenspiel mit den privaten Firmen.

Comments are closed.

Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer
Datenschutzerklärung.
Ok