Bücher über Indien: „India – A Portrait“ – Sachbuch

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Sebastian ZangGeschrieben von:

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Auf 400 Seiten zeichnet der Indienkenner Patrick French den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungspfad Indiens seit 1947 nach. Dem Autor gelingt ein vielschichtiges Bild, in dem umfangreiches Faktenmaterial, Analysen und Beobachtungen zum modernen Indien gut strukturiert werden. Trotz vereinzelter „blinder Flecken“ sehr empfehlenswert.

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Bücher über Indien: „India – A Portrait“ – Der Inhalt

“India – A Portrait”, Patrick French, Allen Lane, 2011

Der Autor Patrick French hat ohne Zweifel ein beständiges Interesse an Indien: Das vorliegende Buch ist bereits das Dritte, das sich mit Indien auseinander setzt. „India – A Portrait“ zeichnet sich durch eine gelungene Aufbereitung von umfangreichem Faktenmaterial aus.

Der erste Teil des Buches widmet sich den politischen Entwicklungen seit 1947 und gibt einen exzellenten Überblick zu den Entwicklungen während der „Partition“, der Spaltung in Indien und Pakistan führte. French liefert in diesem Kapitel ein exzellentes Portrait der Nehru-Gandhi-Dynastie, die bis zum heutigen Tag die Politik Indiens prägt – und schafft ein grundlegendes Verständnis für die Dominanz von Familiendynastien in der indischen Politik überhaupt. Die Bedeutung von Familiendynastien untersucht French detailliert in einer originellen Analyse, deren Fazit ebenso ernüchternd ist wie besorgniserregend: Er untersuchte für die 545 Abgeordneten der Lok Sabha [Unterhaus des indischen Parlaments], welche Rolle die „Vererbung“ einer politischen Funktion über „Familiendynastien“ für die politische Karriere eines Abgeordneten in Indien hatte bzw. hat. Bei den Abgeordneten in der Altersgruppe bis 30 Jahre liegt dieser Anteil bei erstaunlichen 100% Prozent, in der Altersgruppe 31-40 Jahre immerhin noch 65%. „In the Congress party, the situation was yet more extreme: every Congress MP under the age of thirty-five was an HMP [Anm. d. Red.: Hereditary Member of Parliament]. If the trend continued, it was possible that most members of the Indian Parliament would be there by heredity alone, and the nation would be back to where it had started before the freedom struggle, with rule by a hereditary monarch and assorted Indian princelings.”

Im dritten Teil des Buches, das sich den gesellschaftlichen Entwicklungen widmet, gelingt French ein vielschichtiger Blick auf das Kastenwesen Indiens. Die traditionelle Position der „Dalits“, der Unberührbaren, wird sehr eingängig beschrieben. Ebenso der politische Aufstieg dieser Kaste, und zwar in Person von Mayawati, die über mehrere Jahre hinweg den Posten der Ministerpräsidentin in Uttar Pradesh eingenommen hatte, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat Indiens. French geht in seiner Analyse des Kastenwesens unter anderem der Frage nach, ob hierfür genetische Grundlagen vorliegen: Spiegelt sich die heute zu beobachtende Praxis einer Verheiratung innerhalb von Kasten im Erbgut wider? Lässt sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste über das Erbgut nachweisen bzw. nachvollziehen? French’s Recherche führt ihn zu „India’s secretive Institute of Genomics & Integrative Biology“. Dort wird ein Projekt zur landesweiten Untersuchung von Erbgut in Indien für medizinische Zwecke durchgeführt, in dessen Rahmen die Wissenschaftler zu folgender Schlussfolgerung über den Zusammenhang zwischen Genetik und Kastenwesen gelangen: „We soon realized there was not a prototype Indian. People appear to have come from places that are now Iran, Burma, central Asia, Afghanistan. This supports the idea of waves of settlers from various directions. There are many admixtures, whereas by comparison Caucasians are homogeneous. India is like a melting pot compared to other Asian countries. If you trace mitochondrial DNA, it shows that women moved around and probably reproduced with other communities. Marriage within your group is more recent in India. (…) the caste system has no genetic basis.“

Der Grundtenor des Buches ist aber in Teilen „überoptimistisch“ und „romantisierend“, ein Grunde für kritische Stimmen zu dem Buch (vor allem in der indischen Presse, so zum Beispiel vom indischen Essayisten Pankaj Mishra): Der Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung (zweiter Teil des Buches) vernachlässige den landwirtschaftlichen Sektor, brächte die noch immer massenhafte Armut im Land kaum zur Sprache und stehe den neuen Wirtschaftsoligarchen des Landes zu kritiklos gegenüber. Die Wirtschaftselite zeige kaum Interesse an einer gesamtheitlichen Verantwortung für die Entwicklung Indiens. Der Rezensent Isaac Chotiner des „New Republic“ misst das Buch am Maßstab der wenige Jahre zuvor veröffentlichten Biographie V.S. Naipauls und kommt zu folgendem Urteil: “Here [Anm. der Red.: „India – A Portrait“] the balance is somewhat less measured, and the powers of observation significantly less acute.“ [1]

Tatsächlich lernt der Leser in diesem zweiten Teil des Buches (über Indiens wirtschaftliche Entwicklung seit 1947) eine ganze Reihe von Erfolgsbiographien kennen, die den (falschen) Eindruck erwecken, der soziale und wirtschaftliche Aufstieg wäre bereits ein Massenphänomen. Zwar wurden seit den Wirtschaftsreformen 1991 mehr Inder aus der Armut befreit als jemals zuvor in der Geschichte Indiens. Von dem Wirtschaftswachstum hat aber keineswegs die gesamte Bevölkerung gleichmäßig profitiert. So ziehen beispielsweise der indischen Nobelpreisträger Amartya Sen und Professor Jean Drèze in dem Artikel „Putting Growth in its Place“ ein ernüchterndes Fazit zum Fortschritt Indiens bei sozialen Indikatoren wie Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, etc. [2]. Ein genauer Blick auf das Exportwunder IT- und BPO Industrie zeigt beispielsweise: Hier werden gerade einmal 3 Millionen Menschen direkt beschäftigt (12 Millionen unter Berücksichtigung der indirekten Arbeitsplätze) – während die Gesamtzahl der Erwerbstätigen bei 480 Millionen liegt. Der Anteil der direkt Beschäftigten hochqualifizierten (und hochbezahlten) Wissensarbeiter liegt damit gerade einmal bei 0,6% (bzw. 2,5% inklusive der indirekt Beschäftigten). Eben diese Relativierung der „Success story“ IT Industrie findet bei French nicht statt. Die Kritik eines unkritischen Optimismus ist mithin berechtigt.

Zu einer gewissen romantisierenden Tendenz, die von Kritikern ebenfalls moniert wurde: Über den südindischen Staat Tamil Nadu schreibt French beispielsweise folgende Sätze, die weniger an eine Länderanalyse erinnern, denn an die Parodie einer insularen Idylle: „Tamils usually have a wide sprawl of a face, in keeping with the southern lushness. The land is rich with vegetation, paddy fields and mango trees, and the view from the coast is filled with fishing boats, long painted skiffs with curved prows, catching kingfish. Young men dive low for stone fruit – giant blue green mussels, which they pluck off the rocks.”

Das Buch ist deswegen freilich nicht weniger lesenswert. Indien ist ein Land, das reich ist an kontroversen Entwicklungen, ein Land mit mehr als 1,2 Milliarden Einwohnern – und damit 50% aller demokratisch regierten Menschen weltweit. Ein Land mit 28 Bundesstaaten, deren Wirtschaftskraft, Traditionen und geopolitischen Positionen höchst inhomogen ausfallen. Ein wirklich ausgewogenes Bild von Indien ist auch auf 400 Seiten noch eine enorme Herausforderung. Die oben dargestellten Kritikpunkte indizieren, dass einige Aspekte Indiens zu wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Dennoch gilt zweifelsohne das Urteil des Rezensenten Salil Thirpathi der Zeitung „The Independent“: „French’s portrait (…) is stirringly accurate.” [3]

Last but not least: Eine Stärke des Autors Patrick French besteht zweifelsohne in lebhaften Charakterstudien ausgewählter Persönlichkeiten des modernen Indien, die den beschriebenen politischen oder wirtschaftlichen Entwicklungen ein Gesicht geben. Unter den portraitierten Persönlichkeiten Indiens finden sich unter Anderem Jawaharlal Nehru, seine Tochter Indira Ghandi, der self-made Milliardär Sunil Mittal oder auch einer der Anführer der anti-kapitalistischen und terroristischen Bewegung der Maoisten.

Bücher über Indien: „India – A Portrait“ – Der Autor Patrick French

Patrick French [Jahrgang 1966] ist ein britischer Autor und Historiker mit einer Leidenschaft für Indien, das er in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach bereist hat. Bereits 1998 hat er sein erstes Buch über Indien veröffentlicht: „Liberty or Death: India’s Journey to Independence and Division“ [1998], das den “Young Writer of the Year Award” der Sunday Times erhalten hat.

10 Jahre später veröffentlicht er die Biographie des indischen Nobelpreisträgers V.S. Naipaul, das von Kritikern sehr positiv aufgenommen wurde. Das Werk “The World is What it is: The Authorized Biography of V.S. Naipaul” [2008] hat unter Anderem den “National Book Critics Circle Award” und “Howthornden Prize” erhalten.

Der Autor hält sich seit 2011 regelmäßig in Indien auf. Er ist Geschäftsführer eines Softwarehauses mit Entwicklungszentrum in der „IT Hauptstadt Indiens“, Bangalore: Kompetenz in Microsoft Technologien, Software mit .NET Technologie, Datenbankanwendungen, Access Entwicklungen und Excel Tools für fachliche Anforderungen.

[1] “Bigness”, Isaac Chotiner, Online Ausgabe von “New Republikc”, 06. Juni 2011
[2] „Putting Growth in its Place“, Amartya Sen & Jean Drèze, Zeitschrift “Outlook”, 14. November 2011, S. 50 – 59
[3] “India: A Portrait, By Patrick French”, Salil Tripathi, Online Ausgabe von “The Independent”, 14. Januar 2011

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