„Shantaram“ liefert ein lebhaftes Portrait der größten Stadt Indiens, Mumbai. Auf nahezu 1.000 Seiten erzählt diese fiktionalisierte Biographie Lebensabenteuer von bisweilen höchster Dramatik. Wenn auch im Mumbai vor ca. 25 Jahren angesiedelt, bleibt die Beschreibung der urbanen Dynamik und der Beziehungsstrukturen auch heute noch gültig.
Bücher über Indien: „Shantaram“ – Der Autor
Der australische Autor Gregory David Roberts hat „Shantaram“ als fiktionalisierte Biographie verfasst. Er erklärt: “All the substantial events (…) are real events. Some of the other events were invented to help with the narrative.” Die Figuren sind nach Angaben des Autors im Wesentlichen fiktional und aus der Verschmelzung verschiedener Ereignisse aus seinem wirklichen Leben in Indien entstanden.
Gregory David Roberts wurde 1978 für bewaffnete Raubüberfälle zu 19 Jahren Haft verurteilt, ihm gelang jedoch 1980 die Flucht aus dem Gefängnis und anschließend nach Mumbai. Mit der Ankunft in Indien beginnt die Erzählung „Shantaram“. Mehr als 10 Jahre nach der spektakulären Flucht aus dem Gefängnis wurde Gregory David Roberts 1990 in Deutschland schließlich gefasst. Er wurde nach Australien ausgeliefert, wo er seine Haftstrafe in Australien abbüßte. Der Autor lebt heute in Melbourne/Australien, seiner Geburtsstadt.
Bücher über Indien: „Shantaram“ – Der Inhalt
“Shantaram”, Gregory David Roberts, Abacus, 2012, 933 Seiten
“Shantaram” setzt mit der Ankunft des Protagonisten Lindsay ein, dem mit einem gefälschten Pass just die Flucht aus Australien nach Indien gelungen ist (Vgl. oben: „Der Autor“). Schon am ersten Tag schließt er die Bekanntschaft mit dem Stadtführer Prabaker, der ihm während der folgenden Abenteuer und Unternehmungen ein treuer Gefährte sein wird und „Lin“ (der Rufname des Protagonisten) vor allem Zugang zur Kultur Indiens verschafft bzw. die Stadt Mumbai entschlüsselt.
Der auf fast 1.000 Seiten entwickelte Roman umfasst eine Vielfalt von Erlebnissen, Haupt- und Nebensträngen der Erzählung. „Shantaram“ entwickelt hierzu einen dichten Kosmos von Figuren, der Leser taucht ein in eine Welt, die dicht bevölkert ist. In dieser epischen Vielschichtigkeit sieht beispielsweise der Autor Jonathan Caroll Parallelen zu den Erzählungen aus „1001 Nacht“: „Shataram is, quite simply, the Arabian Nights of the new century“. Die Abenteuer des Protagonisten Lin reichen dabei von der Gründung einer Behelfsklinik in einem Slum, Verstrickungen mit der lokalen Mafia, einem Gefängnisaufenthalt, einer Karriere in der Filmindustrie Bollywoods bis hin zu einer Liebesgeschichte. Mehr als einmal gerät der Protagonist bei seinen Abenteuern in Lebensgefahr, kurzum: Erzählstoff, der es zum internationalen Bestseller geschafft hat. Für einige Jahr war im Übrigen die Verfilmung geplant, mit den Hollywood- und Bollywood-Stars Johnny Depp und Amitabh Bacchan in den Hauptrollen. Dieses Projekt wurde jedoch 2009 vom Filmstudio Warner Bros eingestellt.
Dem Buch liegt eine etwa 10-jährige Erfahrung des Autors mit der indischen Kultur zugrunde, nicht zuletzt mit der spezifischen Lebensart der „Mumbaikars“ (Bewohner Mumbai’s). „Shantaram“ zeichnet sich aus durch vielfältige und detaillierte Beobachtungen dieser kulturellen Spezifika. Gregory David Roberts beschreibt diese Beobachtungen nicht nur in eingängigen Szenen, sondern liefert gleichzeitig Erläuterungen und Vergleiche, die dem Leser ein emotionales oder kognitives Verständnis ermöglichen.
Hierzu eine Szene, welche die Bedeutung von Familie in der Kultur Indiens illustriert und – in einem größeren Kontext – die gemeinschaftsorientierte Lebensart, die immer wieder mit dem westlichen Individualismus kontrastiert wird. Der Protagonist Lin ist mit seinem Gefährten Prabaker zu Besuch bei dessen Familie im ländlichen Indien. Undenkbar, wenn nicht mindestens äußerst ungewöhnlich, wird Lin in der ersten Nacht von der Gastfamilie Gesellschaft geleistet: „Prabaker told me that his family and his neighbours were concerned that I would be lonely, that I must be lonely in a strange place, without my own family. They decided to sit with me on that first night, mounting a vigil in the dark until they were sure that I was peacefully deep in sleep. (…) They sat on the ground around my low bed, Prabaker and his parents and his neighbours, keeping me in the warm, dark, cinnamon-scented night, and forming a ring of protection around me.”
In der nachfolgenden Szene macht der Autor begreifbar, welche Bedeutung die Wertschätzung von erhaltenen Geschenken für eine vertrauensvolle Beziehung hat – was ebenso gilt für die Beziehung zwischen einem „Herrn“ und seinem „Diener“, wie hier. Indien gilt (zu Recht) als beziehungsorientierte Kultur, und diese Beziehungen folgen einem unausgesprochenen Regelwerk des gegenseitigen Respekts und der Loyalität. Die nachfolgende Szene kontrastiert gleichzeitig diese gegenseitige Rücksichtnahme in einer solchen Beziehung mit dem „Ausblenden der Masse aus der Wahrnehmung“, das in einem so bevölkerungsreichen Land wie Indien und noch viel mehr in einer Millionenstadt wie Mumbai zu einer natürlichen Einstellung gerinnt:
Der Stadtführer und Gefährte Prabaker hat für eine Zugfahrt in einem Zugabteil unter Erdulden von Schlägen und Kratzen einen Platz für sich und Lin freigehalten. Während der längeren Zugfahrt bietet Lin seinen hart erkämpften Platz einem älteren Herrn an, was zu lautem Protest von Prabaker führt: “[Prakaber:] ‚So hard I fought with nice peoples for your seat. Now you give it up, like a spit of paan juices, and stand up in the passage, and on your legs, also.’ – [Lin:] ‘Come on, Prabu. He’s an old guy. I can’t let him stand while I sit.’ – [Prabaker:] ‘That is easy – only you don’t LOOK at that old fellow, Lin. If he is standing, don’t LOOK at him standing. This is his business only, that standing, and nothing for your seat.’ (…) He’d drifted between English and Hindu until all of us knew the substance of his complaint. Every one of my fellow passengers looked at me with frowns or head-shakes of disapproval. The fiercest glance of reproof, of course, came from the elderly man for whom I’d surrendered my seat.”
So realistisch der Autor bei dem Blick auf die Herausforderungen der Lebensverhältnisse im Indien der 1980er Jahre auch ist, so sehr verleiht er dem Leben in Indien insgesamt einen poetischen Glanz. Hier macht sich eine fast bedingungslose Wertschätzung des Autors für das Land und seine Bewohner bemerkbar. So folgt auf eine ungeschönte Beschreibung der Härten und der Beschränktheit des Landlebens folgender Absatz: „But, just as Prabaker had said, the people did sing almost every day. If an abundance of good food, laughter, singing, and an amiable disposition can be taken as indicators of well-being and happiness, then the villagers eclipsed their western counterparts in those qualities of life. In my six months there, I never heard a cruel voice or saw a hand raised in anger.” Eine der ersten Eindrücke von einem Slum beschreibt Lin mit folgenden Worten: „I looked at the people, then, and I saw how busy they were – how much industry and energy described their lives. Occasional sudden glimpses inside the huts revealed the astonishing cleanliness of that poverty: the spotless floor, and glistening metal pots in neat, tapering towers. And then, last, what should’ve been first, I saw how beautiful they were: the women wrapped in crimson, blue and gold; the women walking barefoot through the tangled shabbiness of the slum with patient, ethereal grace; the white-toothed, almond-eyed handsomeness of the men; and the affectionate camaraderie of the fine-limbed children, older ones playing with younger ones, many of them supporting baby brothers and sisters on their slender hips.”
Diese Poetisierung nimmt den Beobachtungen und Analysen nicht ihren Wert. Das Buch beschreibt mit präzisem Blick das Typische des indischen Lebensalltags. Und während die beschriebenen sozialen Rituale und die Formen des Miteinander auch heute noch weitgehend Ihre Gültigkeit beanspruchen dürfen, so haben sich die dargestellten materiellen Lebensverhältnisse verändert. Das Buch ist in den 1980er Jahren Indiens angesiedelt. Mehr als 25 Jahre später hat sich das Pro-Kopf-Einkommen Indiens etwa verdreifacht … und die wirtschaftliche Dynamik lässt einige Beobachtungen der Erzählfigur inzwischen der Vergangenheit angehören. Gut zu wissen.
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[1] “Among the Bombay mafia”, Patrick Ness, Online-Ausgabe “The Telegraph”, 28. Juni 2004, http://www.telegraph.co.uk/culture/books/3619666/Among-the-Bombay-mafia.html, Stand: 24.02.2013