Zeitverständnis in Indien: Wieso jeder Inder eine Uhr hat und trotzdem niemand pünktlich kommt

Gesellschaft, Kultur, Politik

Ilja DekeyserGeschrieben von:

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Ein altes Sprichwort sagt „ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“. Dieses Sprichwort bringt ziemlich treffend das indische Zeitgefühl zum Ausdruck. Gestern, heute, morgen sind in Indien keine klar abgrenzbaren Begriffe. An die damit verbundene und für westliche Verhältnisse unübliche Langsamkeit und Gelassenheit muss man sich unter Umständen dann auch erst gewöhnen. Aber worauf ist dieser von der westlichen Welt so unterschiedlicher Umgang mit der Zeit zurückzuführen?

Verwurzelt ist diese Einstellung in den philosophischen Lehren der Upanishaden. Die Upanishaden sind eine Sammlung philosophischer Schriften, die vor ungefähr 2800 Jahren entstanden sind. Die Lehren der Upanishaden haben nicht nur die indischen Philosophiesysteme, sondern auch die Lehren des Hinduismus und des Buddhismus stark beeinflusst.

In den Upanishaden ist die Ansicht entstanden, dass Zeit ein Produkt des menschlichen Denkvermögens ist und somit nicht die absolute Realität reflektiert, heißt: das ungeteilte Bewusstsein jenseits von Zeit, Raum und Kausalität. Infolge dessen existiert Zeit nicht objektiv, sondern subjektiv. Die Zeit ist keine objektive Maßeinheit, weil sie ein Bestandteil der Welt ist. Die Zeit ist in der Welt, außerhalb der Welt und der menschlichen Wahrnehmung existiert sie nicht.

Auch die ebenfalls in den Upanishaden entstandenen Lehren der Wiedergeburt und der Entstehungszyklen haben das indische Zeitverständnis stark geprägt. In diesen Lehren wurde der Gedanke entwickelt, dass alles in einem Kreislauf entsteht und vergeht – ganz wie in der Natur. Dem Sonnenaufgang folgt der Sonnenuntergang, Getreide wird gesät und geerntet, Staaten entstehen und vergehen. Das Vergehen wird dabei nicht als Endpunkt, sondern als Neuanfang betrachtet. Dem Leben folgt der Tod, dem Tode folgt die Wiedergeburt. In der Gegenwart sind sowohl die Vergangenheit als die Zukunft enthalten.

Nach diesem Gedanken verläuft die Zeit – im Gegensatz zum westlichen Zeitempfinden – nicht chronologisch, sondern zyklisch. Im Gegensatz zu Kulturen mit einem chronologischen Zeitverständnis wird Zeit dann auch nicht als messbar und kostbar betrachtet. Zeit kann demnach weder gespart noch verschwendet werden. Nicht der Zeitpunkt des Handelns ist bestimmend, sondern die richtigen Rahmenbedingungen für das Handeln sind wichtig.

Durch dieses Zeitverständnis wird Zeitdruck in Indien bedeutend weniger empfindlich wahrgenommen. Störungen und Abweichungen von ursprünglichen Plänen und Abmachungen werden nicht zwangsläufig als negativ empfunden, solange das Ziel nach eigenem Empfinden erreicht wird.

In Indien ist das Leben nicht um die Zeit herum organisiert. Man versucht nicht aus der Zeit einen Strom zu machen, den man zu einer selbstbestimmten Mündung steuern kann, sondern der Fluss des Lebens steht im Mittelpunkt. Den wahren Wert der Zeit und der indischen Kultur lernt man kennen, wenn man Uhr ablegt und die Zeit – zumindest während eines Aufenthalts in Indien – loslässt.

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