Reformen der Arbeitsgesetze in Indien aufgrund Corona-Pandemie

Wirtschaft

Sebastian ZangGeschrieben von:

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Restriktive Arbeitsgesetze zählen zu den bekannten Schwachpunkten der Indischen Wirtschaft (nebst lückenhafter Infrastruktur, Schwierigkeiten beim Erwerb von Grund und Boden und Schwächen im Bildungssystem). In diesen Arbeitsgesetzen manifestiert sich für Unternehmer eine „Red Tape Bureaucracy“ und eine Kultur von „inspector raj“, die Investitionen verhindert und eine „Verzwergung“ der indischen Wirtschaft provoziert: Und zwar ganz im wörtlichen Sinne, denn zahlreiche arbeitsgesetzliche Regelungen werden erst ab bestimmten Unternehmensgrößen wirksam und führen folglich zu Vermeidungshandlungen. Viele indische Firmen bleiben darum unterhalb arbeitsgesetzlich relevanter Schwellen (vor allem 10 MA, 50 MA).

Ein paar Beispiele gefällig aus der Welt der Arbeitsgesetze? – Grundsätzlich sind in Indien etwa 40 Gesetze der Zentralregierung relevant, ebenso weitere 100 bundesstaatliche Gesetze. Der „Factories Act“ von 1948 beispielsweise schreibt vor, in welcher Regelmäßigkeit Toiletten zu weißen sind (nämlich alle vier Monate), welche Größe Eimer mit Löschsand haben müssen (9 Liter) oder wie ein Spucknapf beschaffen sein muss. Bei Entlassungen ist ab bestimmten Unternehmensgrößen die Zustimmung der Regierung erforderlich.

Nun erlebte Indien im Zuge der Corona-Pandemie einen Verlust von Arbeitsplätzen von geradezu apokalyptischem Ausmaß: Die Verhängung eines Lockdowns am 24ten März führte zu einem Rückgang der Arbeitsplätze im Monat April um 114 000 000 (114 Millionen!). Und zwar nach Angaben des „Centre for Monitoring Indian Economy“. Diese dramatische Situation auf dem Arbeitsmarkt hat nun einige Staaten bewogen, Arbeitsreformen anzugehen beziehungsweise zu beschleunigen. Viele der Maßnahmen sind temporär. In neun Bundesstaaten können Produktionsfirmen mit weniger als 300 Beschäftigten jetzt ohne Genehmigung der Regierung Arbeiter entlassen (vorher lag diese Schwelle bei 100). Die überstürzte Reaktion auf die Situation am Arbeitsmarkt führt auch dazu, dass diese reformerischen Aktivitäten nicht selten chaotisch ausfallen, sagt Aditya Bhattacharjea von der Delhi School of Economics. Auch das zählt zur politischen Realität.

Weitere Beispiele: Neun Staaten versuchen, die Arbeitszeitbegrenzungen anzuheben (in einigen Fällen auf bis zu 72 Stunden pro Woche). Drei große Staaten bemühen sich um die Zustimmung des Präsidenten für weitergehende Maßnahmen. Der Bundesstaat Gujarat hofft, für neue Firmen für die Dauern von 1 200 Tage von der Anwendung der meisten Arbeitsgesetzen freizustellen; in Uttar Pradesh will man alle Hersteller für drei Jahre freistellen. In Madhya Pradesh wiederum sollen neuen Firmen für 1 000 Tage vom Aussetzen verschiedener Arbeitsgesetzt profitieren. Und die meisten kleinen Firmen (mit bis zu 50 Beschäftigten) können einen unabhängigen Auditor beauftragen, der ihnen eine Compliance mit dem „Factories Acto“ bescheinigt, ohne dass sie sich einer Regierungsinspektion unterziehen müssen. Die Reformen in Indien waren auch ein Grund dafür, dass die Rating-Agentur S&P das Rating des Landes Indien im Juni dieses Jahres nicht auf Ramschniveau herabgestuft hat.

Ob sich diese beschlossenen und geplanten Maßnahmen tatsächlich als wirkungsvoll erweisen, bleibt offen. Klar ist, dass Reformbedarf besteht. Kritiker monieren jedoch zweierlei. Amrit Amirapu und Vidhya Soundarajan vom Indian Institute of Management Bangalore weisen darauf hin, dass es zielführender wäre, nicht etwa den Arbeitsschutz aufzuheben, sondern seinen Missbrauch zu verhindern. Sogar hartnäckige Reformer wie Arvind Panagariya von der Columbia University sind der Ansicht, dass die Aussetzung von arbeitsgesetzlichen Regelungen zu weit gingen und “dem Geist eines modernen demokratischen Staates widersprechen”. Zweitens, die temporäre Natur ist hochproblematisch: “Keine Unternehmerin, die ihren Namen verdient, wird in relevantem Umfang investieren, wenn die Aussicht besteht, dass das gegenwärtige Arbeitsrechtsregime zurückkehrt”, schrieb Arvind Panagariya in der Times of India.

Der bereits erwähnte Aditya Bhattacharjea (Delhi School of Economics) ist der Meinung, dass die neuen Arbeitsgesetze im Parlament aber durchaus ein besseres Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Sicherheit schaffen könnten. Er begrüßt auch Verfahrensreformen, wie z.B. computergenerierte Zeitpläne, die den Inspektoren den Ermessensspielraum wegnehmen, welche Fabrik sie besuchen und wann sie ihre Berichte einreichen müssen. Dadurch wird es für diese Inspektoren schwieriger, eine Fabrik ins Fadenkreuz zu nehmen und eine Genehmigung zu verzögern, bis Bestechungsgelder gezahlt werden. Ein solches System ist bereits von der Zentralregierung und mehreren Staaten eingeführt worden. (Zufälligerweise ist die Zahl der arbeitsbezogenen Beschwerden auf der Webseite ipaidbribe.com zurückgegangen).

Die arbeitsgesetzlichen Restriktionen sind natürlich vor allem für das produzierende Gewerbe relevant und problematisch. Die IT Industrie hat hier eine Sonderstellung – Der Kündigungsschutz spielt hier nach meiner Beobachtung keine Rolle. Wer als IT Professional halbwegs auf der Höhe der Zeit ist, findet in dieser Industrie mit schier endlos wachsenden Umsatzzahlen innerhalb weniger Wochen einen neuen Job – zumindest in den 1st Tier Cities wie Bangalore oder Hyderabad; in 2nd und 3rd Tier Cities verläuft dieser Prozess nicht ganz so schnell, aber dennoch ist für die IT Industrie weniger restriktiver Kündigungsschutz eine Herausforderung – sondern eher die Rekrutierung und Weiterentwicklung von Fachkräften, ebenso wie die Begrenzung von Fluktuation im Unternehmen. Vergleiche dazu auch folgenden Artikel: IT Offshoring: 10 Tipps zur Minimierung von Fluktuation

Dieser Artikel basiert in großen Teilen auf einem Artikel von The Economist, Ausgabe June 27th 2020

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