Die beiden Inder Ankit Pal und Tushar Singh haben einige Gemeinsamkeiten. Sie sind 19 bzw. 18 Jahre alt und leben beide in der Metropolregion von Delhi, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Beide sind sogenannte Dalits, also der untersten Kaste im indischen Kastenwesen zugehörig. Und beide waren in letzter Zeit in den Nachrichten zu sehen, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen.
Mitte Juli erlangte der lächelnde, bebrillte Tushar Singh kurzen Medienruhm, da er in allen fünf Fächern der landesweiten Schulabschlussprüfungen 100 von 100 Punkten erzielte – und damit die beste Note des Landes. Ein Land wohlgemerkt mit über 1,3 Milliarden Einwohnern! Sein Berufsziel: Karriere in der indischen Verwaltung als Beamter. Der fast gleichaltrige Anit Pal tauchte letztes Jahr in einem viralen Video auf, in dem zwei junge Männer aus der Landbesitzer-Kaste der Jat ihn mit einem schweren Stock verprügelten. Seine Peiniger waren wütend. Denn Ankit Pal hatte einen Job in einer Fabrik zur Herstellung von Smartphone-Bildschirmen gefunden hatte und weigerte sich nun, ihr Land zu bearbeiten oder sich um ihre Kühe zu kümmern. Eben diese Rolle in der Landwirtschaft hatten Dalits seit Generationen inne in diesem Dorf, das von der Landbesitzer-Kaste der Jat dominiert wird.
Das Los der niederen Kasten hat sich seit der Unabhängigkeit verbessert
Vor siebzig Jahren erklärte die indische Verfassung alle Bürger vor dem Gesetz für gleich. Eine Verfassung übrigens, die größtenteils von B.R. Ambedkar verfasst wurde, einem Intellektuellen aus der Kaste der Dalit. Die Verfassung schaffte auch die Unberührbarkeit ab, und forderte den Staat auf, das Los der “schwächeren Teile” der Gesellschaft zu verbessern.
Die Lebensumstände der Dalit haben sich in Folge tatsächlich verbessert. Das starre, rituelle Meiden der Dalits ist weitgehend verblasst. Die Anwendung von Quoten bei Einstellungsprozessen über drei Generationen hinweg in den gesetzgebenden Körperschaften, in den staatlichen Schulen und im Staatsdienst haben eine Bourgeoisie der niederen Kasten geschaffen. Der Erfolg war dergestalt, dass sich schließlich mittlere Kasten gezwungen sahen, für sich selbst auch Lobbyarbeit zu betreiben und ihre eigenen Pfründe zu sichern. Kastenbasierte Parteien sind entstanden, um für mehr Regierungshilfe zu agitieren, und haben in vielen Staaten die Macht gewonnen.
Angesichts all dessen sollte der Erfolg von Tushar Sing eigentlich wenig erwähnenswert sein; und die Gewalt und Demütigung gegenüber Ankit Pal sollte undenkbar sein – oder zumindest eine seltene Ausnahme. Aber eine solche Normalität ist noch nicht erreicht. Der Fall Tushar Singh bleibt ungewöhnlich; umso mehr, als er eine erstklassige Privatschule besuchte. Seine Eltern sind Hochschullehrer.
Zur Normalität gehört aber auch, dass ein Dalit wie Ankit Pal nun berufliche Wege offenstehen, die vorher undenkbar waren. Zuvor war deren Tätigkeitsbereich beschränkt auf Bereiche wie Holzhacken, Abfallbeseitigung oder Gerberei. Nur noch wenige Hindus halten sich an strenge rituelle Reinheit oder halten Dalits buchstäblich für “unantastbar”. Aber ebenso wenig wie Marthin Luther King in den USA die Rassendiskriminierung erreicht hat, hat sich in Indien bereits eine vollständige Loslösung vom Kastendenken vollzogen. Es gibt leider mit trauriger Regelmäßigkeit Nachrichten, in denen von Menschen höherer Kasten berichtet wird, die Dalits verstümmeln, vergewaltigen oder ermorden, weil sie es gewagt haben, einen Schnurrbart zu tragen, ein Pferd zu reiten oder, was am schlimmsten ist, jemanden über ihrem Stand zu umwerben.
Dominanz höherer Kasten in Führungsposition
Höchste Positionen in den Regierungen wie im privaten Sektor sind noch heute fast monopolartig von höheren Kasten besetzt. Und zwar von den drei höchsten Kasten, als da sind: Die Brahmanen (Priesterkaste), die Kshatriyas (Kriegerkaste) und die Vaishyas (Handelskaste). Diese drei Kasten zusammen machen vielleicht 20% der 1,3 Milliarden Menschen in Indien aus. Unterrepräsentiert in Führungspositionen sind: Die 200 Millionen Dalits. Die 190 Millionen Muslime. Aber auch die 40-50% der Hindus, die aus der breitesten Stufe der Kasten-Pyramide entstammen, den Shudras (arbeitenden Kasten), den so genannten Other Backward Classes (OBC).
Von den 89 höchstrangigen Beamten in der Zentralregierung sind laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage nur vier keine Hindus der oberen Kasten, und nicht einer ist ein OBC. Zwei Drittel der 31 Richter des Obersten Gerichtshofs und mehr als die Hälfte aller Gouverneure der Bundesstaaten sind Hindus aus der oberen Kaste. Als das Innenministerium vor kurzem ein Gremium zur Überarbeitung des Strafgesetzbuches bildete, waren die fünf Experten alle Männer, alle aus Nordindien und alle aus den oberen Kasten. Der Trend ist außerhalb der Regierung ebenso stark ausgeprägt. Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie in der allgemeinen Hindi- und englischsprachigen Presse ergab, dass bis auf 15 Personen in leitenden Positionen, z.B. als Redakteure, alle bis auf 121 Personen aus der oberen Kaste stammten. Kein einziger von ihnen war ein Dalit.
Das Fortbestehen der Diskriminierung ist nicht auf Hindus beschränkt. Schätzungsweise 65 % der 20 Millionen Katholiken Indiens sind ehemalige Dalits, deren Vorfahren zum Teil konvertierten, um der Kastenunterdrückung zu entgehen. Doch laut der jüngsten veröffentlichten Aufzeichnung der indischen katholischen Kirche waren von 27 000 Priestern nur 5 % Dalits, und kein einziger der sechs Kardinäle und 30 Erzbischöfe entstammte der Dalit-Kaste. In der muslimischen Minderheit verhält es sich ebenso.
Segretation nach Kasten bleibt weitgehend bestehen
Man hoffte, dass der demographische Wandel und Migration (z.B. Abwanderung aus den Dörfern in die Städte) die Kastenstarre aufbrechen würde. Optimisten wiesen auf eine stärkere Durchmischung hin, da Menschen mit mehreren Kasten oft durch die Umstände gezwungen waren, sich die gleichen Stadtbezirke zu teilen. Hartnäckig zeigten die Statistiken jedoch, dass Mischehen zwischen Kasten nach wie vor selten sind: nur 6% aller Paare bei der letzten Volkszählung.
Eine Analyse der Wohnsituation durch ein Team unter der Leitung von Naveen Bharathi von der Harvard-Universität hat eine auffällige Persistenz und in einigen Fällen sogar eine Verschärfung der Kastensegregation aufgezeigt. Anhand von Volkszählungsdaten für 147 Städte auf Wohnblock- statt auf Ebene von Stadtbezirken und unter Berücksichtigung nicht nur der breiten groben / übergreifenden Kastenkategorien (eher: Kastenfamilien), sondern auch unter Berücksichtigung der sogenannten Jati, d.h. der 5.000 ausdifferenzierten Subkasten. Gerade Angehörige dieser Jati wiesen eine hohe Tendenz auf, untereinander zu heiraten. Das Team um Naveen Bharathi fand nun heraus, dass die Segregation nach Kasten in indischen Städten mit der Segregation nach Rasse in amerikanischen Städten vergleichbar ist. Während 60% der Wohnblöcke in Ahmedabad, der größten Stadt im indischen Bundesstaat Gujarat, keinen einzigen Dalit beherbergten, lebten etwa 80% der Dalits in nur 10% der Stadt. Zugleich war die Ungleichheit in Ahmedabad, gemessen anhand des Gini-Koeffizienten, extremer als in Johannesburg, der ungleichsten Stadt Südafrikas, dem ungleichsten Land der Welt.
Doch inmitten einer scheinbaren Stagnation machte der Forscher Bharathi auch Bewegung aus: “In den Städten werden Barrieren überwunden, aber es sind nicht die großen Barrieren zwischen den Kasten”, sagt er. “Es sind die Subkasten, die sich auflösen.” Es ist immer weniger ein Tabu, in benachbarte Jatis (Subkasten) innerhalb derselben breiteren Kaste einzuheiraten. Gleichzeitig aber, so der Forscher Bharathi, werden die Klassenunterschiede immer stärker. “Wenn Sie einen Dalit-Slum zoomen, werden Sie feststellen, dass sich ärmere Dalits nicht mit Dalits mit höherem Status aus der Nachbarschaft vermischen.
Es wäre interessant in Erfahrung zu bringen, wie der Vater der Verfassung Ambedkar diese Entwicklung bewerten würde. Wie lange braucht es, um mithilfe positiver Diskriminierung Jahrtausende der Kastenunterdrückung zu beenden? Wie viele Generationen würde das dauern?
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Dieser Artikel nutzt als primäre Quelle den Artikel „Cast in India. No escape” der Englischen Ausgabe von The Economist, July 25th 2020