Die Indische Gesellschaft – Respekt als Grundgesetz

Gesellschaft, Kultur, Politik

Theresa MoozhiyilGeschrieben von:

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Die guten Wünsche und besonders der Segen der Anderen begleiten jeden Menschen auf seinem Lebensweg – so ein weit verbreiteter Glaube in der indischen Kultur. Wie funktioniert die indische Gesellschaft? Hier ist eine kleine Einführung zu einem der Grundgesetze der indischen Kultur: Respekt.

Die indische Gesellschaft – Respekt ist ein Grundgesetz

Respekt ist ein wesentlichesGrundgesetz der indischen Gesellschaft bzw. des Zusammenlebens, das jeder Inder bereits in frühester Kindheit verinnerlicht. ‘Matha, Pitha, Guro – Daivam’, so wird es nach alt-indischer Tradition formuliert. „Mutter, Vater, Lehrer/ Gelehrter gleicht Gott selbst“ [1]. Diese Lebensregel fordert keineswegs die Anbetung von Mutter oder Vater ein; vielmehr soll diesen Personen soviel Respekt und Ehrfurcht erwiesen werden, wie ihnen aufgrund deren Alter, Erfahrung, Weisheit, Position in der Familie und Gesellschaft zustehen.

Diese Forderung nach Respekt findet sich in den kleinsten Gesten des Alltags wieder. Man erhebt sich zur Begrüßung, wenn eine Person das Zimmer betritt – insbesondere, wenn es sich um eine Person handelt, die älter ist als man selbst. Es ist auch eine der ersten Regeln, die man in der Schule lernt: Die Schüler stehen auf, wenn der Lehrer/ die Lehrerin ins Klassenzimmer kommt – gleichzeitig handelt es sich um eine klare Zäsur, mit der der Unterrichtsbeginn eingeläutet wird. Zum Vergleich: Mit 12 Jahren verbrachte ich einige Wochen bei einer Freundin und Deutschland und begleitete sie (als Gastschülerin) zur Schule. Das Verhalten in einer eher liberalen Gesellschaft im Vergleich zu meiner indischen Schulerfahrung war etwas ganz anderes. Der deutsche Lehrer kam ins Klassenzimmer, aber kaum ein Schüler nahm ihn wirklich wahr! Der Lehrer schien darüber auch nicht weiter verwundert, sondern stellte zunächst seine Tasche und Unterlagen ab; schließlich begrüsste er die Schüler, die erst dann ihre Plätze aufsuchten und sich gemächlich auf die Unterrichtssituation einstellten. Es geht hier nicht um einen Vergleich der Schulsysteme, sondern um die Bedeutung von gelebtem Respekt in der indischen Gesellschaft, was sehr früh im Leben eines Inders eine Rolle spielt.

Ein in dieser Tradition erzogener Inder ist in der Regel auch vorsichtig dabei, wem er Fragen stellt und wem er widerspricht. In der indischen Kultur wird allgemein und in der Öffentlichkeit nicht widersprochen, besonders wenn die Person älter und erfahrener ist als man selbst. Dies wird als Beleidigung und besserwisserisch angesehen.

Jedoch nicht nur die direkten Gesten des Respektes, sondern auch die indirekten Gesten spiegeln diese Grundhaltung des Respekts wider. Ein einfaches Beispiel hierfür: Die Bekleidung. Nicht-traditionelle Bekleidung ist unter Indern sozial akzeptiert im Urlaub, auf Reisen, in Großstädten oder im Ausland. Ganz anders stellt sich das dar, sobald Gäste aus der Familie kommen oder ein Besuch bei der Familie (z.B. im Heimatsdorf) ansteht. Jeder folgt ganz selbstverständlich dem Grundsatz, dass man sich in Anwesenheit älterer Mitglieder der Familie und im Dorf ‘angemessen’ kleidet bzw. sich nach Normen des Dorfes richtet. Durch solch angemessenes Verhalten wird nicht nur Respekt erwiesen, sondern auch entgegengenommen. So kann es sein, dass sich die selbe Person in ihrem Heimatdorf in Kolkata oder Kerala in Sari oder Salwar kleidet [2], aber in Städten wie Bangalore oder Mumbai nur mit Jeans und T-Shirt unterwegs ist. Dasselbe wird auch von einem Besucher, Gast oder Tourist erwartet. Angemessene Kleidung in dem Kontext meint: Die Normen des Dorfes werden nicht verletzt und niemand muss sich Fremdschämen, da insbesondere allzu freizügige Kleidung nicht üblich ist. Genauso wie wenn man sich zur Sonntagsmesse ‘angemessen’ kleiden würde und ganz anders für eine Spazierfahrt. Was jedem Indien-Reisenden sicherlich auffällt: Die Städte sind liberaler bzw. weniger ‘traditionell indisch’, das wirklich traditionelle Indien ist mehr auf dem Dorf zu finden. Diese traditionellen Werte und Verhaltensweisen sind sehr tief im dörflichen / ländlichen Indien verankert, Veränderungen passieren hier nur sehr langsam; zu sehr sind diese Verhaltensweisen an die traditionelle Gesellschaftsordnung und Hierarchie geknüpft, die man nicht aufs Spiel setzen möchte.

Auch den Göttern wird Respekt gezollt. Zu Gebetszeiten werden die Götter/ die Gottheit im Tempel, aber auch in den einzelnen Häusern geschmückt, erst dann werden die Gebete übermittelt. Respekt wird darüber hinaus auch Werkzeugen entgegen gebracht, Geräten und Anlagen oder auch der Mutter Erde. Die klassisch indische Tänzerin berührt beispielsweise vor der Tanzaufführung den Boden, um damit der Mutter Erde Respekt zu erweisen und von ihr Segen zu erhalten. Weiterhin berührt sie als Geste des Respekts vor dem Tanz jedes Instrument, welches ihren Tanz begleitet.

Ayudha Puja [3] ist beispielsweise eines der indischen Feste, bei dem auch die Bücher, (Arbeits-)Werkzeuge, Geräte und Maschinen ehrfurchtsvoll geschmückt werden, um den Segen der Götter bzw. Göttinnen zu erbitten. Gerade Motorräder und Autos, die als Transportmittel benutzt werden, sind an diesem Tag Mittelpunkt der Feier. Da man diese ‘Werkzeuge’ mithilfe der Göttinnen Saraswati (die Göttin des Wissens) und Lakshmi (Göttin des Reichtums) erlangen konnte, werden hauptsächlich diese beiden Göttinen in feierlichen Zeremonien angebetet.

Als Gegengabe für die Erweisung des Respekts wird der Segen der Älteren erwartet. Die Tänzerin erwartet den Segen von Mutter Erde für Ihre Vorführung. Die Götter sollen die Gläubigen segnen, damit deren Leben prosperiert. Die älteren Mitglieder der Familie sollen den jüngeren Mitgliedern Segen und gute Wünsche erteilen, damit deren Leben glücklich und erfolgreich verläuft. Man glaubt, dass nicht nur die eigene Kraft und Fähigkeit, sondern auch die Segenswünsche der anderen dazu beitragen, im Leben glücklich und erfolgreich zu werden. Diese Grundidee inter-dependenter Gesellschaftsmitglieder (insbesondere Familienmitglieder) unterscheidet die indische Gesellschaft sehr wesentlich von den individualistisch ausgerichteten westlichen Kulturen. Zum Beispiel – bei einer Hochzeitsfeier berührt das Hochzeitspaar die Füße der älteren Mitglieder der Familie, um Segen zu erbitten [4]. Dieser Segen soll sie in der neuen Lebensphase begleiten und stärken. Auch im öffentlichem Leben, wird dieses Ritual praktiziert. Ein Beispiel aus dem öffentlichen Leben: Der für den Posten des Premierministers kandidierende Narendra Modi [5] berührt bei einem offiziellen Treffen mit L.K. Advani, dem Gründervater der Partei BJP [6] dessen Füße.

Diese Regeln des Respekts werden im Übrigen in allen Gesellschaftsschichten eingehalten, ganz unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Kaste oder zu einer Religion.

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[1] Matha, Pitha, Guro Daivam – eines der ältesten indischen Konzepte in Sanskrit.
[2] Traditionelle indische Bekleidung.
[3] Ein südindisches Fest, zu welchem die Göttinnen der Kräfte “Shakti” verehrt werden (Lakshmi – die Göttin der Weisheit, Kunst & Literatur; Saraswathi – die Göttin des Reichtums; und Parvathy – die göttliche Mutter). Man glaubt, dass die Göttinnen hinter allem stehen. Die Gebete oder Pujas sind für den Erfolg und richtige Belohnung der Tätigkeit (mit den zugehörigen Werkzeugen – dies kann auch der PC sein mit dem man arbeitet oder das Auto, mit dem man fährt). – Wikipedia
[4] Pranama oder die Berührung der Füße in der indischen Kultur ist ein Zeichen des Respekts. Zum Beispiel, wenn Kinder ihre Großeltern grüßen, berühren sie in der Regel mit ihren Händen die Füße der Großeltern. In der indischen Kultur wird angenommen, dass die Füße eine Quelle der Macht sind. – Wikipedia
[5] Narendra Modi ist der 14te und aktuelle [2013] Chief Minister von Gujarat, ein Staat im Westen Indiens, als Vertreter der Bharatiya Janata Party (BJP). Er ist der Ministerpräsidenten Kandidat der BJP und der Mitte-Rechts-Nationalen Demokratischen Allianz für die Parlamentswahlen 2014 in Indien. – Wikipedia
[6] Die Bharatiya Janata Party (Übersetzung: Indische Volkspartei; abgekürzt BJP) ist eine der beiden großen (Volks-)Parteien im politischen System Indiens, die zweite ist der ‚Indian National Congress‘. – Wikipedia

181 Responses to " Die Indische Gesellschaft – Respekt als Grundgesetz "

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